Familien werden zu wahren Alltagshelden

Diese Reportage ist für den Jahresbericht 2019/20 des Caritasverbandes für Stuttgart e.V. im Sommer 2020 entstanden. Mittlerweile befinden wir uns schon im zweiten Lockdown. Die Porträts der Familien sind dennoch aktuell: Sie zeigen auf, dass Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen in der Pandemie mehr Aufmerksamkeit brauchen.

Für viele Familien waren die Schließungen von Schulen, Kindergärten und anderen Betreuungsangeboten während des ersten Lockdowns eine echte Herausforderung. Plötzlich waren sie auf sich gestellt und mussten die Betreuung ihrer Kinder ohne das gewohnte Hilfesystem sicherstellen. Familien, deren Kinder eine schwere und mehrfache Behinderung haben, waren besonders gefordert und mussten über sich hinauswachsen, um ihren Alltag in der Krise bewältigen zu können.

Der Alltag war kaum zu bewältigen

In der Hängematte lässt es sich gut aushalten….

Bei Familie Schlechter ist an diesem Morgen ganz schön was los. Tochter Henriette sitzt im Wohnzimmer in einer Hängematte und darf Fernsehen. Es läuft eine Sendung im Kinderkanal. Dabei schaukelt sie unruhig in der Hängematte hin und her, quietscht fröhlich und macht laut auf sich aufmerksam. Henriette ist 13 Jahre alt und hat das Down-Syndrom. Normalerweise geht sie jeden Tag in die siebte Klasse einer Sonderpädagogischen Schule. Sie hat eine Schulbegleiterin, die ihr im Schulalltag zur Seite steht. Sie ist dort von morgens bis zum frühen Nachmittag gut versorgt. Seit etwa drei Jahren besucht Henriette auch das Kindergästehaus der Caritas Stuttgart, eine Einrichtung für Kurzzeit- und Tagesbetreuung für Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung. An manchen Tagen geht sie dort in die Tagesbetreuung, mittlerweile übernachtet sie auch mal übers Wochenende. Ihre Eltern wollen Henriette daran gewöhnen, dass sie auch mal zwei oder drei Nächte am Stück außerhalb von zu Hause schläft. Sie hoffen, dass sie dadurch selbstständiger wird und mit neuen Situationen leichter umzugehen lernt. Als die Schulen und vorübergehend auch das Kindergästehaus wegen Corona im Frühjahr 2020 schließen mussten, bedeutete das für die ganze Familie eine enorme Herausforderung.

Angewiesen auf verständnisvolle Mitmenschen

Henriette trommelt im Takt zur singenden Aufzieh-Plüschente.

„Der Alltag war kaum zu bewältigen“, erzählt Henriettes Mutter Simone Schlechter. Ihr neunjähriger Sohn Julius musste von zu Hause aus unterrichtet werden, Hausaufgaben machen, benötigte mal Unterstützung von den Eltern. Seine Schwester Henriette zog aber die ganze Aufmerksamkeit auf sich. „Sie braucht durchgehend Manndeckung“, sagt ihr Vater. Sie könne sich schlecht selbst beschäftigen und müsse ständig beaufsichtigt werden. Sich da zu konzentrieren, ist fast unmöglich. Manchmal habe es nur eine ruhige Minute gegeben, wenn Henriette Fernsehen schaute. Das ist bei Familie Schlechter nicht üblich, aber nur so hätten die Eltern mal einen Moment für sich, könnten etwas im Haushalt erledigen und etwas organisieren. „Henriette hat ihren ganz eigenen Kopf. Und sie ist jetzt in der Pubertät“, erzählt ihre Mutter. Das merke man ihr an. Sie interessiere sich viel mehr für ihr Aussehen, „hat Freude an einem schönen Kleid“. Aber das mache sie noch eigensinniger. Sie hat viel Energie, ist laut. „Den ganzen Tag ist Krawall“, beschreibt es ihr Vater.

Henriettes Eltern arbeiten beide, Simone Schlechter an zwei Vormittagen in der Woche. Sie hatte großes Glück, dass ihr Chef verständnisvoll ist und ihr flexibles Arbeiten ermöglich hat. „Anders wäre es gar nicht gegangen“, erzählt sie. Erst mit den Lockerungen der Corona-Bestimmungen ist etwas Entlastung in den Alltag zurückgekehrt. Henriette darf wieder alle 14 Tage für eine Woche in die Schule und auch ihr Bruder wird stundenweise unterrichtet.

Alleinerziehend: eine große Herausforderung in der Krise

Emma und Christel Kreß

Noch verschärfter war und ist die Situation hingegen bei Familie Kreß. Christel Kreß ist alleinerziehend und lebt mit ihrer 16-jährigen Tochter Emma in Stuttgart. Emma hat eine genetisch bedingte Gehirnfehlbildung und ist schon seit ihrer Geburt mehrfach schwerstbehindert. Sie ist komplett auf fremde Hilfe angewiesen und braucht eine Rundum-Betreuung. Christel Kreß pflegt ihre Tochter zu Hause. Sie ist ausgebildete Pflegefachkraft und Sozialpädagogin. In ihrem Beruf kann sie aber nicht arbeiten, denn die Pflege ihrer Tochter ist ein Vollzeitjob – Tag und Nacht ist sie für Emma da. Sie kann sich keine Unterstützung durch einen ambulanten Pflegefachdienst leisten, da der Zuschuss der Pflegekasse für diese Leistungen die Kosten nicht decken kann. Daher lebt die Familie von Hartz IV und von Pflegegeld.

Die Krise hat Familie Kreß besonders zugesetzt. Emma besucht normalerweise eine sonderpädagogische Schule. In den wenigen Stunden, die sie in der Schule verbringt, hat Christel Kreß Zeit, Besorgungen zu machen und auch ein bisschen Zeit für sich. Vor der Corona-Pandemie arbeitete sie an einem Vormittag ehrenamtlich beim Jugendhaus Mitte in der Essensausgabe des offenen Mittagstischs. „Das ist für mich als pflegende Mutter sehr wichtig, damit ich mal ein bisschen raus und auf andere Gedanken komme“, sagt sie. Auch das Kindergästehaus bietet der kleinen Familie in normalen Zeiten Entlastung. In den Ferien geht Emma häufig ins Kindergästehaus. Je nachdem, wie es ihr gesundheitlich geht, bleibt sie zwischen vier und 18 Tage zur Übernachtung. Sie genießt die Zeit und den Kontakt zu den anderen Kindern. „Sie profitiert von den aktiveren Kindern sehr.“

Komplett auf sich allein gestellt

Mit der Corona-Pandemie und ihren Einschränkungen sind diese Entlastungen von einem auf den anderen Tag weggebrochen. „Man baut sich über Jahre ein tragfähiges Netz auf und mit Corona ist alles – wusch – weg,“ erzählt Christel Kreß. „Man ist plötzlich komplett auf sich allein gestellt.“ Während des ersten Lockdowns konnte sie sich bei der Betreuung ihrer Tochter keine Unterstützung holen. Freunde mussten für sie einkaufen und Erledigungen machen. Da Emma gesundheitlich vorbelastet ist, war ihre Mutter aus Sorge vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus noch vorsichtiger, wen sie ins Haus kommen lässt. Mit den Lockerungen hat sich die Situation für Familie Kreß zumindest ein klein wenig verbessert. Emma geht zwar noch nicht zur Schule, weil die Betreuungszeit zu kurz ist. Glücklicherweise darf aber einmal in der Woche eine Mitarbeiterin vom Kindergästehaus für ein paar Stunden zu ihr kommen. In dieser Zeit kann ihre Mutter Erledigungen machen und für einen kleinen Moment verschnaufen.

Mehr Wertschätzung in der Gesellschaft

Beide Familien hätten sich gewünscht, dass man auf ihre besonderen Bedürfnisse differenzierter und einfühlsamer eingeht. Sie fühlen sich im Stich gelassen, da die bislang gültigen Hilfesysteme in der Krise weggebrochen sind. Die Krise hat offengelegt, dass Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen im politischen und gesellschaftlichen Diskurs eine untergeordnete Rolle spielen. Das gilt es zu ändern, damit Menschen mit Behinderung und ihre Familien nicht benachteiligt werden. Nur so können wir gemeinsam den Weg in eine Gesellschaft in Vielfalt und gelebte Inklusion beschreiten.