Ein Stadtrundgang der besonderen Art.
Mit Gerhard zu den Treffpunkten obdachloser Menschen.
Wir treffen Gerhard in der Olgastraße 46, einer Einrichtung des Caritasverbands für Stuttgart, die bereits seit über 50 Jahren niederschwellige Hilfen für Wohnungslose und Arme bietet. Eine Anlaufstelle, die der 63- Jährige seit mehr als 20 Jahren regelmäßig besucht. Hier bekommt er fünf Tage die Woche Frühstück, einzig für den Kaffee muss er bezahlen, trifft Freunde und Bekannte und hat Ansprechpartner für alles was ihn beschäftigt.
Die Platte vor der Kirche
Gerhard bietet bereits seit zehn Jahren mehrmals im Jahr eine Tour durch die Stuttgarter Innenstadt an, mit Stopps an den Hotspots der Wohnungslosen. Nachdem Gerhard uns sein Hab und Gut gezeigt hat, das er im Schließfach im Hinterhof der Olgastraße 46 deponiert, geht es los durch die Stuttgarter Obdachlosen-Szene. Unsere erste Station auf der Tour ist die Katharinenkirche. Hier findet jeden letzten Sonntag im Monat Kathis Vesper statt. Doch noch etwas anderes macht diesen Ort für Gerhard zu einem wichtigen Platz: Seit sechs Jahren schläft er zwar bei einem Bekannten auf der Couch, mit Schlafsack und ohne die anderen Vorzüge dieser Wohnung nutzen zu dürfen, doch ab und an ist dennoch Platte angesagt, aus den unterschiedlichsten Gründen. Seine Platte ist die Schwelle der Eingangstür der Katharinenkirche, hier verbringt er draußen seine Nächte, für jeden sichtbar und völlig ungeschützt.
Der Schmerz sitzt tief
Die Geschichte dieses Mannes bewegt und zeigt eine Vita, die eigentlich auch ganz anders hätte verlaufen können. Im Gegensatz zu vielen anderen auf der Straße konsumiert er weder Alkohol noch Drogen, finanziert sich ohne jegliche staatliche Hilfe und überrascht bei vielen Fragen mit seinem Wissen, reflektiert und sehr klar kommen die Antworten auf die unterschiedlichsten Fragen. Über seinen Werdegang informiert, verwundert das nicht weiter: Gerhard hat Abitur und ein abgeschlossenes Jurastudium inklusive 2. Staatsexamen. Doch jeder seiner drei Versuche, beruflich Fuß zu fassen, scheiterte. Gerhard ist manisch depressiv und diese bipolare Störung führt dazu, dass er an manchen Tagen schlichtweg zu gar nichts in der Lage ist. Das Krankheitsbild ist erblich und begleitet Gerhard schon sein ganzes Leben, bereits mit elf Jahren musste er miterleben, wie sich seine Mutter auf grausame Art und Weise das Leben nahm. Dieser Schmerz sitzt tief, beim Erzählen kann man ihn noch heute von seinem Gesicht ablesen.
Vom Quartalstrinker Karl und vom Tod
Nach der Katharinenkirche gehen wir vorbei an der Caritas Galerie „Sichtbar“ zum Nachtwächterbrunnen in der Pfarrstraße. Hier stehen in wenig einladender Umgebung zwei rote Bänke, der Treff der Säufer. Unser Guide erzählt uns von Caruso, Jägermeister Peter, dem Quartalstrinker Karl und vom Tod. Das Thema Tod ist in der Szene Programm, nicht selten wacht ein Trinker am nächsten Morgen nicht auf, da die Organe ihren Dienst quittieren. Menschen verschwinden oder sterben auf unerklärliche Art und Weise. Gerhard selbst trinkt nicht, doch seine Beerdigung hat er bereits bezahlt bei der Stadt mittels eines Bestattungsvorsorge-Vertrags, auch hier möchte er niemandem auf der Tasche liegen. Nach dem Leonhardsplatz geht es weiter zur Paulinenbrücke, dem sozialen Brennpunkt Stuttgarts neben dem Hauptbahnhof. Hier treffen wir in der Franziskusstube auf Schwester Margret, die seit 35 Jahren in der Obdachlosenhilfe
in Stuttgart aktiv ist und dafür auch bereits mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Weiter zum Gerber, ein beliebter Toilettenstop auf Gerhards Runde durch die Stadt, von da in Richtung Hospitalhof zur letzten Station der Tour, der Evangelischen Gesellschaft. Eva’s Tisch bietet von Montag bis Freitag zwischen 12 und 13 Uhr für zwei Euro eine reichhaltige und preisgünstige Mahlzeit an. Inzwischen sind wir fast drei Stunden unterwegs und Gerhard könnte noch stundenlang weitererzählen, das Repertoire an traurigen Geschichten scheint unendlich. Das Fazit welches uns
Gerhard mit auf den Weg gibt ist zweigeteilt: In Stuttgart sei es durchaus möglich,
nicht auf der Straße zu schlafen und man werde gut versorgt, wenn man die unterschiedlichen Hilfeeinrichtungen richtig zu nutzen weiß. Freilich, nicht allen Junkies und Säufern könne geholfen werden, meint Gerhard und zieht das harte Fazit: „Einmal Säufer, immer Säufer.“
Ein Stifter macht Platte
Klaus Möhler war einen Tag und eine Nacht lang obdachlos
„Schlaflos“ war die Nacht, sagt Klaus Möhler, der zu den fünf Menschen gehörte, die zusammen mit Wolle einen Tag und eine Nacht lang obdachlos in Stuttgart waren. Für den 81-Jährigen Klaus Möhler, der der Caritas als Stifter verbunden ist und die Schließfächer in der Olgastraße ermöglichte, waren diese 24 Stunden „eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Aber bitte nicht wieder!“ Tagsüber lief die Truppe durch Stuttgart, vorbei an den Plätzen und hin zu den Orten, wo sich obdachlose Menschen aufhalten und treffen. Auf der Route lagen die Einrichtungen, in denen sie Hilfe bekommen oder etwas zu essen. „Überall haben wir unsere Kollegen getroffen“, erzählt Klaus Möhler, der durch sein Engagement viele Menschen kennenlernte, die „nicht so viel Glück gehabt haben wie ich“. Platte machten er und seine Kollegen dann an der Weinsteige. Die Kollegen schliefen unter Parkbänken, er in einer Schaukel. Klaus Möhler nach dem Grund für sein Engagement gefragt, erzählt vom Krieg und dass er zweimal beinahe gestorben wäre. Glück habe er gehabt auch später in seinem Leben. Und wenn es einem selbst gut geht, „dann lass uns denen helfen, denen es nicht so gut geht“. Klaus Möhler spricht die Menschen an, wenn er sie auf der Straße sieht. Und er hat dabei gelernt, „dass wenn mir etwas passiert wäre, ich vielleicht auch auf der Straße sitzen würde. Geld, weg, Frau weg, Job weg und schon ist alles anders“.