Als wir das Interview mit Familie Rostami aus Afghanistan führten, dachten die meisten Regierungen und Menschen der westlichen Welt, die Situation in Afghanistan sei unter Kontrolle. Was für ein schrecklicher Irrtum. Tausende von Menschen fürchten im Land um ihr Leben: Diplomat_innen, Menschen, die für Hilfsorganisationen arbeiten, Journalist_innen. Und vor allem Afghaninnen und Afghanen, die für sie gearbeitet haben. Für Toofan und Naser Rostami müssen die Bilder und Nachrichten aus ihrer Heimat ein furchtbarer Alptraum sein, der sie wieder daran erinnert, welches Schicksal ihre Familie erleiden musste. Sie flohen vor vielen Jahren aus Afghanistan, weil ihr Vater im Dienste der ausländischen Streitkräfte stand. Die Familie wurde bedroht, der Bruder verlor bei einem gezielten Angriff auf sie beinahe sein Leben. Aktuell fürchtet einer der Brüder um das Leben seiner Frau, die noch in Herat ist. „Die Taliban“, so seine Angst, „nehmen sich alle Frauen, die keinen Mann haben.“
Toofan ist ein junger Mann, der vor kurzem seine Ausbildung als Elektroniker für Betriebstechnik und Instandhaltung bei der ENBW abgeschlossen hat. Sein Bruder Naser arbeitet als freier Dolmetscher bei der Stadt Stuttgart und trainiert Basketball für Kinder, die wie er im Rollstuhl sitzen. Naser engagiert sich außerdem noch ehrenamtlich in der Gewaltprävention für Flüchtlinge und als Gesundheitscoach. Die Mutter der beiden Brüder, Sabira Rostami, kam im Dezember 2020 nach Deutschland. Auf einem Boot über das Meer, zu Fuß, mit dem Zug über Italien zu ihren beiden Söhnen, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Der Vater und die Schwester von Toofan und Naser leben in der Türkei.
Sitzt man Toofan, Naser und ihrer Mutter Sabira Rostami gegenüber, lernt man etwas davon, wie stark Menschen sein können. Aber auch davon, wie unfassbar groß das Leid ist von Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten müssen. Und man schämt sich auch für die vielen kleinen und großen Hürden, die wir ihnen in den Weg legen. Naser und Toofan fragen, warum sie nach all‘ dem Leid nicht mit ihrer Mutter, dem Vater und ihrer Schwester zusammen leben können? Sie verstehen nicht, warum ihre Mutter in Gefahr ist, abgeschoben zu werden. Warum der kranke Vater kein Visum bekommt, um seine Söhne zu sehen?
Für die Taliban sind sie Verräter
Familie Rostami lebte in Afghanistan in Herat. Herat ist eine Stadt im westlichen Afghanistan im Tal des Hari Rud. Sie ist die zweitgrößte Stadt im Land, nach der Hauptstadt Kabul. Herat, die Heimatstadt der Familie Rostami, ist bekannt für ihre jahrtausendalte Kunst – und Literaturtradition.
Der Vater der Familie arbeitete für die Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF). Die ISAF war von 2011 bis 2014 die Sicherheits- und Wiederaufbaumission unter der Führung der Nato während des Krieges in Afghanistan. Im Dezember 2014 endete der Einsatz der ISAF. Schon während des Einsatzes und auch danach waren die einheimischen Mitarbeiter der ISAF gefährdet. Der Vater der Familie Rostami arbeitete bei der ISAF in der Logistik. Diese Arbeit hat ihn und seine Familie zur Zielscheibe für die Taliban werden lassen. Für sie war er ein Verräter, wie alle, die im Dienst der ausländischen Streitkräfte standen. Es gab immer wieder Drohungen, erzählen die Söhne und bei denen blieb es nicht: Ihr Vater wurde von den Taliban angeschossen und dabei verletzt.
2011 beschloss die Familie, ihre Heimat zu verlassen. Sie machten sich getrennt auf den Weg, weil sie dachten, so sicherer aus dem Kriegsgebiet zu kommen. Die beiden Brüder Toofan, er war damals 14 Jahre und der 16-jährige Naser gingen alleine los, ihre Eltern und die kleine Schwester, sie war 12 Jahre alt, sind unabhängig von ihnen geflüchtet. Immer in der Hoffnung, dass sie alle bald wieder zusammen sein würden. Doch Naser und Toofan haben ihre Familie, die Mutter, den Vater und ihre Schwester, fünf Jahre lang nicht mehr gesehen und sie hatten auch keinerlei Lebenszeichen voneinander.
Den Söhnen gelang nach vielen Jahren die Flucht nach Deutschland. Ihre Eltern und die kleine Schwester kamen nach einer langen Odyssee in der Türkei an, wo sie seitdem leben. Die Mutter ist 2020 zu ihren Söhnen nach Deutschland geflohen, der Vater und die kleine Schwester leben bis heute in der Türkei. Alle haben immer wieder versucht, legal ihre Söhne, den Brüder in Deutschland sehen zu können. Doch das haben ihnen die Behörden nicht gestattet.
Schwerverletzt mit dem Bruder auf der Flucht
Naser Rostami hat der Krieg und die Flucht schwer gezeichnet. Er wurde als Jugendlicher in Afghanistan bei einem auf ihn gezielten Raketenangriff durch die Taliban schwer verletzt. Sein Beifahrer kam dabei ums Leben. Naser sitzt seither im Rollstuhl. Mit Wunden, die kaum versorgt waren, oft ohne Medikamente, musste Naser zusammen mit seinem Bruder Toofan seine Heimat verlassen. Über den Iran sind die beiden mit Hilfe von Schleusern in die Türkei gekommen. „Wir gingen zu Fuß, waren versteckt in Auto, in die wir nachts eingestiegen sind und nachts wieder raus.“
Toofan und Naser waren drei lange Jahre auf der Flucht. Sie lebten in Lagern in der Türkei, auf der griechischen Insel Chios, bis sie schließlich, auch dank einer Schwester von Ärzte ohne Grenzen, nach Athen kamen, wo Naser endlich in einem Krankenhaus behandelt werden konnte.
Naser blieb in Athen, aber Toofan sah für sich keine Chance in Griechenland. „Ich wollte was erreichen und den Wunsch meiner Eltern erfüllen und etwas lernen.“ Leicht fiel es ihm nicht, Naser in Athen zurück zu lassen, nicht wissend, ob er seinen Bruder je wieder sehen würde: „Es war sehr schwer, mich von meinem Bruder zu trennen und der beste Moment war, als er dann endlich auch nach Deutschland kam.“
Bis es soweit war, hatte auch Toofan noch einen schwierigen und gefährlichen Weg vor sich: Er flüchtete 2014 mit einer Gruppe rund 40 Menschen aus verschiedenen Länder über Österreich nach Deutschland.
Ein Jahr später gelang es auch Naser mit der Hilfe von Schleusern, nach Deutschland zu kommen.
Drei Wochen war er auf der Flucht, bis ihn die Schleuser an einer Bushaltestelle in Mannheim abgelieferten. Toofan erinnert sich noch heute daran, als er einen Anruf von der Polizei bekam: „Ihr Bruder ist hier.“ Das, so sagt er „war der glücklichste Moment, endlich war mein Bruder wieder bei mir.“ Heute haben beide Brüder mithilfe von Klageverfahren eine Aufenthaltserlaubnis und Toofan bewirbt sich gerade um die deutsche Staatsbürgerschaft. Naser würde gerne Sozialarbeiter werden.
Die Mutter wollte unbedingt zu ihren Söhnen
Sabira Rostami, die Mutter von Naser und Toofan, lebt seit Dezember 2020 in Deutschland und kam im Januar 2021 in eine Caritas Unterkunft in Stuttgart-Möhringen. Nach der Flucht ihrer Söhne hat sie sich mit ihrer Tochter und ihrem Mann noch sechs Monate in Afghanistan versteckt, bevor auch sie in die Türkei geflohen sind.
Naser und Toofan haben die ganzen Jahre versucht, ihre Eltern zu finden. 2018 fuhr Toofan in die Türkei und hat dort endlich seine Eltern und seine Schwester nach Jahren wiedergetroffen. Die Familie bemühte sich mehrmals um ein Visum, damit die Mutter, der Vater und die jüngere Schwester ihre Söhne und Brüder wenigstens in Deutschland besuchen können. „Meine Mutter wollte unbedingt zu uns, ihren Söhnen kommen“, erzählen die beiden. Aber die Bemühungen der Familie bleiben erfolglos.
Sabira Rostami entschloss sich deshalb dazu, zu fliehen und hat sich auf den gefährlichen Weg nach Deutschland gemacht. Viel erzählt die Mutter nicht von diesen Tagen und Nächten, von Monaten auf der Flucht durch Europa. Bruchstückhaft erfährt man von langen Fußmärschen, von der Gewalt, der sie überall ausgesetzt war, von Aufenthalten in den Lagern auf den griechischen Inseln und davon, wie sie beinahe ertrunken wäre, als sie mit anderen Geflüchteten versuchte auf einem Boot nach Kreta zu gelangen. „Das war ein Schiff mit 200 Menschen. Sie haben uns den Motor weggenommen und die Handys auch und uns dann wieder in die Türkei zurückgeschickt.“
Doch Sabira Rostami hat solange versucht, zu ihren Söhnen zu kommen, bis sie es endlich geschafft hat und sie im Dezember 2020 über Italien in Deutschland angekommen ist. Es war ein Glücksmoment für die Söhne und ihre Mutter: „Der Dezember ist ein guter Monat. Da habe ich meine Ausbildung beendet, meine Mama ist gekommen. Aber ein Teil von meiner Mama fehlt noch“, sagt Toofan. Und das Glück, ihre Söhne wieder in die Arme schließen zu können, ist brüchig. Denn aktuell ist Sabira Rostami von Abschiebung bedroht.
OMID bedeutet Hoffnung
Die Brüder wurden in Stuttgart auch von Mitarbeitenden von OMID betreut. Mehr Infos gibt es dazu auf unserer Homepage unter: https://www.caritas-stuttgart.de/hilfe-beratung/migration-integration-und-flucht/fluechtlingshilfe/omid-fruehe-hilfen-fuer-traumatisierte-fluechtlinge/omid.
OMID ist persisch und bedeutet Hoffnung. Der Name des Projekts hat für die Brüder auch eine große Rolle gespielt, da sie seine Bedeutung verstanden, es klang für sie nach ihrer Heimat. Irini Sokolaki, Mitarbeiterin im Caritasverband in Stuttgart, kam 2018 in die Unterkunft nach Stuttgart-Möhringen und lernte dort Naser Rostami kennen: „Mein Büro und sein Zimmer waren auf dem gleichen Flur. Er war nicht so der typische Klient. Er kam häufig zu mir, aber immer ohne Termin. Er bekam wegen seiner Querschnittslähmung ein Abschiebeverbot, aber das hat ihn sehr belastet. Er wollte, dass seine wahren Fluchtgründe gewürdigt werden und dafür hat er auch geklagt. Das war ihm sehr wichtig. Wir haben mit der Zeit eine gute Beziehung gehabt. Naser kam mit dem zu mir, was ihm wichtig war. Ich konnte erleben, wie er an seiner Behinderung gewachsen ist. Auch seine Mutter Sabira kommt jetzt zu mir, wenn sie Hilfe braucht.“
Die Stuttgarter Zeitung veröffentlichte am 16. August 2021 eine Reportage über die Familie. Abonnentinnnen und Abonnenten können den Artikel hier lesen: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.gefluechtete-brueder-aus-afghanistan-der-horror-in-der-heimat-raubt-den-schlaf.a3ad6569-a6cc-4256-ac65-aeffc7fecf58.html?reduced=true.