Genießt die Stadt, genießt das Leben!

Zwölf fröhliche und ein bisschen aufgeregte Menschen erwarten uns im Innenhof des Alten Schlosses in Stuttgart. Sie sind Gästeführer_innen bei BLICKWECHSEL, einem Projekt des Caritasverbands für Stuttgart e.V., das Menschen mit einer geistigen Behinderung zu Stadtführer_innen ausbildet. Als Auftakt zu unserer Weihnachtsfeier erwartet uns an diesem Nachmittag also eine ganz besondere Tour durch die Landeshauptstadt.

Stadtrundgang mal anders

Es ist ganz schön kalt an diesem Wintertag. Während wir uns die Mützen tiefer ins Gesicht ziehen, die Hände in den Taschen vergraben und darauf warten, dass nach und nach alle Teilnehmer_innen eintreffen, gehen ein paar der Gästeführer_innen nochmal ihre Notizen durch. Einige von Ihnen sind erst seit kurzem Stadtführer_innen, ein paar gehören aber auch zu den „alten Hasen“ und sind entspannt. Da unsere Gruppe sehr groß ist, wird sie einmal geteilt und jeweils von sechs Gästeführer_innen und einer Mitarbeiterin des Projekts begleitet.

Steven ist heute besonders aufgeregt. Er darf unsere Gruppe als erstes begrüßen und wartet gespannt auf seinen Einsatz. Als es so weit ist, tritt er ein paar Schritte nach vorne. Nacheinander stellen sich auch die anderen Gästeführer_innen vor und gemeinsam erzählen sie uns, was uns in den kommenden anderthalb Stunden erwartet: Ein Rundgang durch Stuttgart aus ihrem Blickwinkel!

Dann hält Steven gut gelaunt ein Schild mit „Stuttgart Blickwechsel“ hoch und lädt unsere Gruppe ein, ihm zu folgen. Unser Rundgang führt uns zunächst zum Schillerplatz. Gerade ist Weihnachtsmarkt und in der langsam untergehenden Wintersonne beginnen die beleuchteten Stände schon bunt zu funkeln.

Wir bleiben vor dem Prinzenbau stehen und die Stuttgart-Expert_innen erzählen uns Wissenswertes über die Geschichte rund um den Schillerplatz und das Leben der württembergischen Herzöge mit schönen Anekdoten, die uns immer wieder zum Schmunzeln bringen. Dabei wechseln sie sich untereinander ab. In den Händen halten sie ihre Notizen, die mit großen Buchstaben und Bildern bedruckt sind. Sie helfen ihnen dabei, nicht so leicht den Faden zu verlieren. Unsere Gruppe ist nach wie vor groß, aber alle Gästeführer_innen meistern diese Herausforderung. Sie ermutigen sich gegenseitig, ein bisschen lauter zu sprechen und hören sich aufmerksam zu. Immer mal wieder kommen sie beim Reden ins Stocken, dann hilft auch mal die Leiterin des Projekts, Andrea Dikel, weiter.

Vom Hutzelmännlein bis zur Entstehung der Brezel

Wir hören vom „Hutzelmännlein“ aus dem gleichnamigen Roman des Dichters Eduard Mörike und der Weg führt uns an Stuttgarts ältester Kirche, der Stiftskirche, vorbei zum Rathausplatz und in die Markthalle. An dem dunkelgrün glänzenden „Ceres“ Brunnen machen wir eine kurze Trinkpause und bahnen uns dann einen Weg durch die duftenden Gewürz-, Gemüse-, Obst- und Feinkoststände. Am nordöstlichen Ausgang ist auf dem Boden eine Körper-Silhouette mit weißer Farbe eingezeichnet und wir erfahren, dass die Markthalle schon als Drehort für die Kultserie „Tatort“ gedient hat. Anschließend führt der Stadtrundgang zurück zum Alten Schloss. An der Statue des Herzogs Eberhard I. von Württemberg erzählt uns Marion die Geschichte vom Bäcker Frieder aus Urach, der beim Herzog in Ungnade verfallen und zum Tode verurteilt worden war. Sein Leben könne nur dann verschont werden, wenn es ihm gelingt, innerhalb von drei Tagen ein Brot zu backen, durch das drei Mal die Sonne scheint. Und so entstand – der schwäbischen Legende nach – die Brezel!

Unser Stadtrundgang endet vor dem Neuen Schloss. Alle Gästeführer_innen tragen uns zum Abschluss zusammen ihr Gedicht „Stuttgart – unsere Stadt“ vor, das sie 2008 im Rahmen des Projektes selbst gedichtet haben.

Wir sind begeistert von den schönen Erzählungen, glücklichen Gesichtern und dem Mut der Gästeführer_innen, so eine große Gruppe durch Stuttgart zu führen. Denn für Menschen mit geistiger Behinderung ist es eine besondere Herausforderung vor so vielen Leuten zu sprechen, sich über einen langen Zeitraum zu konzentrieren oder sich selbständig auf die Führung vorzubereiten. Umso mehr hat es uns beeindruckt, mit welcher Begeisterung und Leidenschaft sie uns von IHRER Stadt erzählt haben. Und um es mit den letzten Zeilen des Gedichts zu sagen: „Genießt die Stadt, genießt das Leben, vielleicht wird’s bald ein Wiedersehen geben“.

Führungen buchen

Die nächste BLICKWECHSEL-Führung findet am Samstag, 25.04.2020 statt. Wer Interesse an einer Führung hat, kann sich beim TREFFPUNKT über Andrea Dikel telefonisch unter 0711 95454-450  oder per E-Mail unter a.dikel@caritas-stuttgart.de informieren und anmelden.

 

Ein Kommentar

  1. Liebe Gästeführerinnen und Gästeführerkalender, ich freue mich sehr, dass ihr immer noch mit Begeisterung Gäste durch Stuttgart führt nach so vielen Jahren. Echte Profis seid ihr geworden! Super, dass ihr auch von neuen Guides unterstützt werdet. Ich denke voller Freude an unsere Ausbildung und die Fortbildungen zurück. Alles Gute weiterhin! Herzliche Grüße an das Blickwechsel-Team, eure Andrea.

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